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Die Macht der so genannten Experten

Die American Dietetic Association (ADA) ist ein Zusammenschluss von über 70000 Ernährungsexperten. Diese Organisation kam zum Ergebnis, dass die vegetarische und vegane Ernährung in jedem Alter für alle Personen empfehlenswert ist. Gleichzeitig wird von anderen «Experten» in der Schweiz die vegetarische Ernährung als so extrem und gefährlich angesehen, dass Vegetarier und Veganer von der Ausbildung als diplomierte Ernährungsberater/innen ausgeschlossen werden.1 Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Experteneinschätzungen? 

Für viele Menschen gilt die Schulmedizin genauso als exakte Wissenschaft wie die Mathematik. Bei näherer Betrachtung stellt man jedoch nebst vielen Parallelen auch wesentliche Unterschiede fest: In der Mathematik käme niemand auf die Idee zu fragen, wie gross die Wahrscheinlichkeit sei, dass zwei plus drei fünf ergibt, da die Mathematik auf Grundregeln aufbaut, die in jedem Fall ausnahmslos eingehalten werden. 
In der Schulmedizin gibt es zwar auch Regeln, jedoch kaum eine, die ausnahmslos immer gilt. Fast immer wird mit Wahrscheinlichkeiten gearbeitet. Allen sind die Aussagen der Medizin bekannt: Wenn man viel raucht, bekommt man mit höherer Wahrscheinlichkeit Lungenkrebs, oder im Winter ist die Wahrscheinlichkeit höher, einen Schnupfen zu bekommen, als im Sommer und so weiter. Für einzelne Personen ist die Medizin nicht in der Lage, exakte Aussagen zu machen (z. B. gibt es auch viele Raucher, die nie an Lungenkrebs erkranken). 
Die Schulmedizin hat also zu den meisten Fragen keine allgemein gültigen Gesetze gefunden, wie es in allen anderen Wissenschaftsbereichen üblich ist. Kein Arzt kann Ihnen voraussagen, ob Sie jemals einen Krebs bekommen werden, geschweige denn, was für einen. Natürlich liegt dies auch daran, dass der menschliche Körper so komplex ist, dass er das Fassungsvermögen des Menschen (und somit auch der «Experten») übersteigt. Dennoch müssen die Experten aber in der Öffentlichkeit so auftreten, als verfügten sie über gesichertes Wissen.

Die Mathematik in der Schulmedizin 

Da allgemein die Mathematik als neutrales präzises Werkzeug gilt, versucht man also auch in der Medizin möglichst viel mit dem Werkzeug der Mathematik zu umschreiben. Mangels exakter Regeln geschieht dies fast immer mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. 
Damit verschaffen sich die so genannten Experten gleich zwei Vorteile: Sie geben ihren Aussagen durch die Mathematik einen seriösen Anstrich und können ihre wissenschaftlichen Resultate so verpacken, dass es (nicht nur für Laien) schwer wird, auf den ersten Blick Fehler zu erkennen, da man bei Wahrscheinlichkeitsangaben die Aussage ja nicht einfach über ein einzelnes Experiment überprüfen kann. Denn über einzelne Personen können solche Wahrscheinlichkeitsangaben bzw. Statistiken überhaupt keine konkreten Aussagen machen. Dies führte dazu, dass heute kaum noch eine medizinische Studie andere Resultate als Wahrscheinlichkeiten und Statistiken vorweisen kann.

«Es handelt sich bei der Medizin ganz allgemein nicht um eine exakte Wissenschaft.» 
Prof. Dr. H. Kollaritsch in der Ärzte-Woche vom 16.7.2003

Falls Sie in der Schule einmal ein Fach Statistik oder Wahrscheinlichkeitstheorie hatten, gehören Sie mit grosser Wahrscheinlichkeit zu denjenigen, die froh waren, als es vorüber war (ausser Sie sind begeisterte/r Mathematiker/in). Dies hat damit zu tun, dass es ein sehr komplexes Gebiet ist und viele Fehlerquellen enthält, die man erst auf den zweiten Blick erkennt. Wenn man sich in diesem Fach auskennt, kann man sich Forschungsresultate fast immer so zusammenstellen, dass man als Ergebnis das erhält, was man gerne haben möchte. Das grosse Problem dabei ist, dass man dies oft sogar unbewusst ohne böse Absicht macht. 

Zwei deutsche Wissenschaftler, Hans-Peter Beck-Bornholdt und Hans-Hermann Dubben, haben sich mit diesem Problem befasst und ein Buch geschrieben, in dem sie allgemein verständlich einige der häufigsten Fehlerquellen aufzeigen, die bei solchen «Zahlenspielereien» gemacht werden. Das sehr empfehlenswerte Buch heisst: «Der Hund, der Eier legt – Erkennen von Fehlinformation durch Querdenken». So absurd der Titel auch klingt, er zeigt gut auf, auf welche Resultate man kommen kann, wenn man statistische Zahlen falsch interpretiert. Das Buch enthält viele solch eindeutige, leicht durchschaubare Beispiele von Fehlinterpretationen und Fehlanalysen, die jedoch als Grundlage immer Fälle aus der wissenschaftlichen Literatur (den so genannten wissenschaftlichen Studien) haben. 
Beide Autoren verstehen es als Insider (sie sind beide preisgekrönte Wissenschaftler), die Zusammenhänge humorvoll und allgemein verständlich aufzubereiten.

Woher kommen die unterschiedlichen Expertenmeinungen? 

Wie kam es dazu, dass man heute für fast jede Meinung eine Studie findet, die sie unterstützt oder einen Experten, der sich dafür einsetzt?
Der Professor für Biophysik und Strahlenbiologie mit Fachbereich Medizin Hans-Peter Beck-Bornholdt und der promovierte Biophysiker Hans-Hermann Dubben sehen vor allem einen Grund: «Die Forschung ist gegenwärtig eher darauf angelegt, Quantität zu produzieren. Qualität in Form von soliden Ergebnissen ist nicht gefragt.» 
Je öfter ein Wissenschaftler etwas publiziert, desto grösser wird sein Ansehen in den Fachkreisen und desto öfter bekommt er attraktive Aufträge (z. B. Expertengutachten zu erstellen). 
Die beiden Autoren haben zum Beispiel in der bedeutendsten radioonkologischen2 Zeitschrift (Radiotherapy and Oncology) die veröffentlichten Studien mehrerer Jahre näher untersucht und sind zum Ergebnis gekommen, dass rund ein Drittel aller dort publizierten klinischen Arbeiten statistisch nicht haltbare Aussagen enthalten. Sie haben dazu auch eine Arbeit mit diesen Resultaten in derselben Zeitschrift veröffentlicht (siehe unter Quellenangaben am Ende dieses Artikels). Aufgeschreckt durch dieses vernichtende Resultat haben sie einige Jahre später noch einmal dieselbe Untersuchung gemacht und kamen zum gleichen Resultat. Dieses zweite Resultat wurde jedoch zur Veröffentlichung nicht mehr angenommen. Da die dort publizierten Arbeiten auch heute noch wegweisend für die schulmedizinische Behandlung von Krebspatienten sind und es keinen Grund gibt, weshalb sich die Situation verbessert haben sollte, werden heute auf Grundlage solcher fehlerhaften Studien Patienten behandelt.

Die Pharmafirmen stecken wesentlich mehr Geld in das Marketing ihrer Produkte als in die Forschung und Entwicklung neuer Produkte. 
Südwestrundfunk, 
Radio-Akademie, 24.5.2003

Auf dem Ernährungssektor würde eine Untersuchung kaum ein viel besseres Bild ergeben. Im Gegensatz zur Krebsforschung kommt hier sogar noch ein wesentlicher zusätzlicher Faktor hinzu, der die Resultate kaum wissenschaftlich exakter werden lässt: Jeder Wissenschaftler ist auch ein Mensch und ernährt sich auf irgendeine Art. Deshalb muss er sich als Privatperson auch entscheiden, ob er z. B. Fleisch isst oder nicht. Da die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler noch immer Fleischesser sind, werden die Resultate dadurch bewusst oder unbewusst auch entsprechend beeinflusst. Hinzu kommen die wirtschaftlichen Aspekte. Durch die sehr hohen Subventionen der Produktion und Verarbeitung tierischer Produkte fliesst in diesem Bereich sehr viel Geld, das auch entsprechend verwendet werden kann. Wenn also die persönliche private Einstellung zum Vegetarismus sich mit derjenigen des Geldgebers deckt, ist es umso schwerer, wissenschaftlich exakte Arbeiten zu diesem Thema zu erstellen.

Was folgt aus alldem? 

Nicht jede Aussage, die auf angeblich wissenschaftlichen Fakten beruht, muss deshalb auch stimmen. 
Klären Sie ab, wer hinter einer Veröffentlichung steht. Also z.B., wer den Wissenschaftler, der die neue Erkenntnis veröffentlicht hat, finanziert. Die Auftraggeber sagen oft schon viel über das Resultat aus, obwohl rein wissenschaftlich natürlich kein Zusammenhang zwischen der Finanzierung und den Resultaten einer Studie bestehen sollte. 
Versuchen Sie zu jeder Aussage Expertenmeinungen aus unterschiedlichen Quellen zu berücksichtigen. Idealerweise sollte man immer auch die gegenteilige Meinung anhören, bevor man sich ein Urteil bildet. 
Wann immer möglich, sollte man sich auf Originalaussagen stützen. Ein Journalist, der über eine Studie schreibt, schreibt dies in der Regel aus seinem Blickwinkel und somit selektiv. 

Leider kommt es oft vor, dass selbst die Zusammenfassungen wissenschaftlicher Studien nicht immer übereinstimmen mit dem, was wissenschaftlich in der Studie herausgefunden wurde. Um ganz sicher zu sein, muss man also jeweils die ganze Studie lesen. 
All diese Massnahmen sind leider sehr aufwändig und ohne wissenschaftliche Ausbildung ist auch nicht alles umsetzbar. Deshalb wird man auch in Zukunft auf Expertenaussagen angewiesen sein. Man sollte aber dennoch nie blind einer Expertenmeinung Glauben schenken, bloss weil es ein so genannter Experte ist, sondern nur, weil seine Argumente auch nachvollziehbar sind und die gegenteilige Meinung der anderen Experten mit weniger glaubwürdigen Argumenten vertreten wird. 
Und natürlich sind nicht alle Experten unfähig, korrekte Studien zu erstellen, oder gar Betrüger. Deshalb lohnt es sich, sich die Namen von guten, vertrauenswürdigen, unabhängigen Experten zu merken. 
Dasselbe gilt natürlich auch für Fachorganisationen. Diese verfügen meist über eigene Experten, welche wissenschaftliche Arbeiten vor der Veröffentlichung nochmals kritisch prüfen können und Gegendarstellungen zu fehlerhaften Studien bringen. 
Um sich ein Urteil bilden zu können, bleibt einem also nur, die Meinung unterschiedlicher Experten anzuhören und daraus selbst einen Schluss zu ziehen. 
Wenn also eine neue Studie «beweisen» würde, dass hoher Fleischkonsum gesund sei, könnten Sie z. B. bei einer Vegetarierorganisation oder einer neutralen Ernährungsorganisation nachfragen, wie sie diese Studie beurteilen.

«Wir sind gewohnt, selbst zu entscheiden, welches Auto oder welchen Kühlschrank wir kaufen. Wir informieren uns vorher sehr gut. Wenn es jedoch um unseren eigenen Körper und unsere Gesundheit geht, dann ist es so, dass wir diese Entscheidung häufig gar nicht haben wollen.» 
Gerd Gigerenzer, Direktor am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Wenn Sie eine Studie lesen, die besagt, dass die vegetarische Ernährung gesund sei, können Sie natürlich dasselbe z. B. beim Metzgermeisterverband tun. 
Schliesslich bleibt der Entscheid, wem man glauben soll, immer ein persönlicher, den man ganz alleine treffen sollte. Eine wichtige Hilfe sind dabei der gesunde Menschenverstand und die Natur als Vorbild. Wenn Sie z. B. jemanden kennen, der seit Geburt noch nie Fleisch konsumiert hat, sollte dies stärker bewertet werden als eine Aussage eines Wissenschaftlers, der behauptet, eine vegetarische Ernährung sei unmöglich. 

Renato Pichler

  1. Die Ernährungsberater-Ausbildung kann in der Schweiz nur an drei Institutionen absolviert werden. Im Universitätsspital in Zürich lehnt die Schulleitung alle Vegetarier, die sich zu dieser Ausbildung anmelden, ohne weitere Prüfung prinzipiell ab. Im Inselspital in Bern werden Vegetarier nicht grundsätzlich abgelehnt, jedoch haben dort Veganer keine Möglichkeit, die Ausbildung zu absolvieren. Siehe dazu auch: Sind Vegetarier in Schulen für Ernährungsberatung unerwünscht? (Nachtrag von 2008: Diese Situation hat sich geändert) 

  2. Radio = Strahlen, Onkologie = Krebswissenschaft

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