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Kindermund: «Ich ess Fleisch, einfach kein Tier»

Kinder zwischen Fleischkonsum und Tierliebe

Kinder lieben Tiere: Ob die eigene Katze, den Hund oder das Lieblingskuscheltier, eine Welt ohne Fellnasen ist unvorstellbar. Doch es gibt auch die andere Seite jenseits der Bilderbuchgeschichten, und die kommt spätestens auf den Tisch, wenn das Kind zum ersten Mal wissen will: «Mami, woher kommt Fleisch?» Arjeta Qerreti ist im Rahmen ihrer Masterarbeit der Frage nachgegangen, wie Kinder mit dem Zwiespalt zwischen Fleischkonsum und der Liebe zu Tieren umgehen. 

Du hast elf Kindern im Alter von 7–11 Jahren eine Geschichte vorgelesen, in der es um Tierliebe und das Essen von Tieren geht. Danach hast du mit den Kindern darüber gesprochen, was sie zur Geschichte denken. Wie waren die Reaktionen?

Bis auf ein Kind waren alle sehr traurig darüber, dass man in der Geschichte das Huhn töten musste, um es essen zu können. Die Befragten zeigten Verständnis für das Kind aus der Geschichte, das deshalb kein Poulet mehr essen wollte. Ein Junge zeigte mit der Hand auf sein Herz, weil es sich dort traurig anfühlt. Auch die Körperhaltung der Kinder zeigte ihre Hilflosigkeit, weil sie spüren, dass bei der sie umgebenden Normalität etwas falsch läuft. Am besten lässt sich das Gefühl der Kinder mit Konsternation beschreiben – mehr als traurig –, fassungslos, bestürzt. Ein Kind hat sein Gefühl so beschrieben, als ob es vom Blitz getroffen worden sei. 

Für die Kinder schien dies offensichtlich ein Zwiespalt zu sein – Tiere zu lieben und sie zu essen.

Die meisten Kinder bis 11 Jahre haben einen biozentrischen Zugang zur Natur. Das heisst, das Leben von Menschen und Tieren ist für sie gleich viel Wert. Dies zeigt sich so, unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht etc. Ein Junge formulierte, dass es für ihn gleich traurig ist wenn ein Tier stirbt, wie wenn sein Vater sterben würde. Die Auswahl der befragten Kinder erfolgte rein zufällig, weil keine besonderen Merkmale berücksichtigt werden mussten. Bei der Befragung achtete ich darauf, ob die Kinder bereits wussten, dass für Fleisch Tiere getötet werden, oder ob sie dies erst aus der Geschichte erfahren haben. Die Idee war, Kindern nichts zu suggerieren, sondern möglichst das zu erfassen, was sie bereits dachten und fühlten beim behandelten Thema. Dies ermöglichte es mir, ihr subjektives Empfinden unverfälscht zu erfahren. Die theoretische Vorannahme, dass Kinder in diesem Alter bereits den Zusammenhang zwischen Tötung von Tieren und Fleisch kennen, hat sich grundsätzlich bestätigt. Nur einem Mädchen war nicht bewusst, dass für Fleisch ein Tier getötet werden muss, für sie war Fleisch einfach Fleisch und kein Tier.  

Wie reagieren Kinder auf diese widersprüchlichen Emotionen?

Wie gesagt waren fast alle Kinder traurig, bestürzt und/oder fassungslos, eben konsterniert, als sie erfuhren, dass das Essen von Fleisch mit dem Töten von Tieren einhergeht. Der Umgang mit diesen Gefühlen war allerdings je nach Umfeld des Kindes unterschiedlich. Am meisten erstaunte mich, dass Kinder die negativen Emotionen zwar wahrnehmen, diese aber verschweigen und zuhause nicht erzählen. Sie haben Angst, ausgelacht und nicht ernst genommen zu werden. Ein Junge hat erzählt, dass er versucht hat, sich vegetarisch zu ernähren, doch die Mutter hat darauf keine Rücksicht genommen. Er versuchte sie zu überzeugen, indem er Bilder vom Internet ausgedruckt und auf ihr Bett gelegt oder in der Wohnung verteilt hat. Doch die Mutter zerriss die Bilder. Nach drei Monaten hat der Junge wieder aufgehört, sich vegetarisch zu ernähren.

Ein anderer Junge stellte sich vor, dass Fleisch etwas wie ein Roboterteil ist, etwas Mechanisches, das keine Emotionen hat. Einige Kinder erwähnten auch die Idee einer Rache seitens der Tiere. Ein Mädchen z. B. machte sich Gedanken, dass sich die Tiere einmal bei uns rächen könnten dafür, dass wir sie essen. Davor hatte es einerseits Angst, aber auch Verständnis. Innerlich war es für kein einziges Kind richtig oder nötig, Tiere für den Fleischkonsum zu töten. «Es gibt doch so viele andere Sachen, die man essen kann», sagte eines. Die Kinder reagieren ratlos und bestürzt darüber, dass sich das Töten von Tieren schlecht anfühlt und dies für den Fleischkonsum trotzdem passiert. 

Weshalb verlernen die Kinder dieses angeborene Mitgefühl zu den Tieren?

Für die Kinder ist die Familie als erste Sozialisationsinstanz sehr wichtig, allen voran wollen Kinder von den Eltern in ihrem Sein anerkannt sein. Wenn Kinder merken, dass sie zuhause kein Verständnis für ihre Fragen oder Sorgen erhalten, verschweigen sie ihre Bedenken. Ein Kind kam zum Beispiel aus einer Bauernfamilie und sprach daheim ganz bewusst nicht über das Thema. «Zuhause merkt es niemand, dass ich das denke», meinte er. Dieser Junge spürt offenbar die grosse Diskrepanz zwischen seinem Empfinden gegenüber dem Essen von Tieren und der gelebten Normalität, Tiere zu nutzen und zu töten wie dies in seiner Familie als Viehbauern zum Alltag gehört. Würde er seine Bedenken offen darlegen, sähe er sich der Gefahr ausgesetzt, von seiner Familie nicht verstanden zu werden. 

Weiter kommen mit dem Älterwerden Rechtfertigungsstrategien dazu. In diesem Alter fehlen den meisten Kindern noch die rationalen Argumente der Erwachsenen, sogenannte Rechtfertigungsstrategien. Aus diesem Grund sind die Kinder so verwirrt, weil das, was sie fühlen, nicht das ist, was um sie herum passiert. Einzig ein Junge erwähnte besonders viele solcher Argumente, wie sie die Erwachsenen haben «Die Tiere sind dafür da, getötet zu werden», «Der Mensch braucht Fleisch» etc. Rechtfertigungsstrategien entstehen laut psychologischen Untersuchungen  durch ein Spannungsfeld zwischen der eigenen Handlung und der inneren Haltung dazu. Wenn wir schlecht denken über das, was wir tun, dann verändern wir eher die Haltung als die Handlung, weil neuropsychologisch betrachtet Denkweisen einfacher zu verändern sind als Handlungen. Dieser psychologische Aspekt des Menschen führt dazu, dass das Mitgefühl irgendwann der Handlung unterliegt. Es ist daher wichtig, dass Kinder schon früh darin gestärkt werden, nach ihren Ideen zu handeln, und dass ihnen dafür Freiräume angeboten werden. 

«Eigentlich lieben Kinder Tiere, ihr Verhalten gegenüber anderen Geschöpfen aber wird von den Erwachsenen geprägt.»
Eugen Seiferle

Deine Arbeit hat gezeigt, dass sich viele Kinder emotional mit den Tieren verbunden fühlen. Trotzdem essen sie Fleisch. Wieso?

In diesem Alter identifizieren sich die Kinder noch stark mit dem, was die Eltern machen. Sie wollen zur Familie dazu gehören und denken, «was die Eltern machen, wird schon in Ordnung sein». Weil das Wir-Gefühl so stark ist, will man nicht anders sein als Mami oder Papi.

Ein anderer Grund ist sicher auch, dass die Eltern von den Kindern ganz klar erwarten, dass sie Fleisch essen. Beeinflusst von der Industrie, der Werbung und aus Gewohnheit ist Fleischessen einfach normal und gilt als gesund. Selbst in der Schule sind alle Lehrmittel fleischorientiert. Es gibt keine Unterlagen, die sich mit der vegetarischen Ernährung auseinandersetzen. Zusätzlich stellen die Fleisch- und Milchorganisationen den Schulen kostenloses Unterrichtsmaterial zur Verfügung, das durch Subventionen finanziert wird. Fleischessen ist einfach die absolute Normalität in unserer Gesellschaft. 

Wie häufig wird Fleischkonsum zuhause thematisiert?

Bei der Mehrheit wird der Fleischkonsum wenig thematisiert. Kinder werden oft auch angelogen, denn wenn das Fleisch zu sehr einem Tier ähneln würde, würden sie es nicht mehr essen. Viele Eltern verschweigen oder verharmlosen die Fleischproduktion bewusst, weil sie sich nicht auf das Gespräch einlassen und damit ihr eigenes Verhalten nicht hinterfragen müssen. Einige haben auch Angst davor, dass ihr Kind krank wird, wenn es vegetarisch lebt. Hier müssten die Eltern ihr eigenes Handeln überdenken – und das ist wie gesagt viel schwieriger, als die Meinung zu ändern. Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Scheinbar haben wir ein schlechtes Gewissen, wenn wir über den Fleischkonsum nachdenken, aber anstatt den Zustand zu ändern, werden die Bilder verändert.

Wie können Eltern damit umgehen, wenn das Thema auf den Tisch kommt?

Es kommt darauf an, welche Ziele die Eltern verfolgen. Im Idealfall sollten die Kinder ernst genommen werden in dem, was sie fühlen, und man sollte ihnen die Wahrheit darüber sagen, woher Fleisch kommt. Eltern sollten die Entscheidung des Kindes akzeptieren, wenn es kein Fleisch mehr essen will, und es dabei unterstützen. Das bedeutet, sich selbst darüber zu informieren, wie eine gesunde vegetarische Kost aussehen kann. Was gibt es für gesunde alternative Gerichte? Wir sollten den Kindern Raum lassen, ihr Mitgefühl zu leben. Dabei können Eltern ruhig aufrichtig gegenüber ihren Kindern sein. So können Kinder mündige Personen werden. Für eine Zukunft, in der Kinder nach ihren Gefühle leben können, müssen wir ihre Entscheidungen mittragen.

Warum verharmlosen viele Eltern, woher das Fleisch kommt?

Das Ziel der Eltern ist es ‒ auch unbewusst ‒, die eigene Normalität weiter zu leben. Bei diesem Thema wird es natürlich schwierig, und viele Eltern nutzen ihre Machtposition, indem sie Rechtfertigungsstrategien verwenden. Um mein Kind ernst zu nehmen, reicht es nicht aus, nur zuzuhören, sondern ich muss dem Kind auch die Möglichkeit geben, entsprechend seinen Anliegen zu handeln. Eltern sollten sich fragen: «Nutzen wir unsere Machtposition, um unsere eigenen Interessen durchzubringen oder um die Interessen des Kindes zu schützen?» Dazu muss man aber auch sich selber im Denken und Handeln hinterfragen.

Bürdet man den Kindern durch dieses «Ernst nehmen» nicht zu viel Verantwortung auf?

Kinder sind noch nicht so sehr in den ganzen Normen und Strategien der Erwachsenen gefangen. Sie können noch unvoreingenommen Fragen stellen, die unsere Selbstverständlichkeit in Frage stellen. Wir sollten das Kind nicht so betrachten, als sei es ein vollständiger Mensch.  In seiner Gegenwart, in der es lebt, hat es eine volle Daseinsberechtigung so, wie es ist. Es darf diese naiven Fragen stellen, die unser Selbstverständnis auf den Kopf stellen. Wir können einem Kind Stärke vermitteln, indem es seine Meinung äussern darf. So bekommt es die Chance, näher mit den Eltern zusammenzuwachsen. Wenn Eltern sich für die Welt des Kindes öffnen, ist es für das Kind auch ein Zeichen. Es gibt dann keine diffuse Normalität im Sinne von «es ist einfach so», sondern wir können ihm mit Fakten die Welt erklären. Wohlwollen trotz verschiedener Meinungen. Dieser Umgang legt den Grundstein für einen allgemein friedvollen Umgang mit allen Lebewesen.

Vielen Dank, Arjeta, für das interessante Gespräch.

Bernadette Raschle

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